18. Juli 2024

Homo lupo lupus: Der Mensch ist dem Wolf ein Wolf

ÖKOBÜRO - Allianz der Umweltbewegung

In der Rs C-601/22 WWF stellt der EuGH die Abschusspraxis streng geschützter Arten in Österreich in Frage. Ein „weiter so“ wird nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sein.

In einem der letzten Abschussbescheidverfahren Tirols – das Land ist wie mittlerweile üblich auf Verordnungen statt Bescheide umgestiegen – führten Beschwerden von WWF, ÖKOBÜRO und anderen dazu, dass das Landesverwaltungsgericht mehrere Vorlagefragen an den EuGH übermittelte. Das Thema: die Auslegung der FFH-Richtlinie zu Artikel 16, also konkret zur Bewilligung von Abschüssen streng geschützter Arten. Das Urteil des EuGH erging mit 11. Juli 2024 und folgt im Wesentlichen den Schlussanträgen der Generalanwaltschaft vom Jänner des gleichen Jahres. In einigen Punkten ist das Ergebnis sogar noch etwas „strenger“.

Die derzeitige Praxis in Österreich

Die Praxis zum Abschuss („Entnahme“ oder „letale Vergrämung“) streng geschützter Arten wie dem Wolf oder Fischottern wandelte sich in den letzten Jahren. Nachdem Umweltschutzorganisationen erst 2017, folgend der Entscheidung Protect, höchstgerichtlich Rechtsschutz gegen artenschutzrechtliche Eingriffe gewährt bekamen, führten zahlreiche erfolgreiche Anfechtungen solcher Bescheide zu einem Umdenken bei den dafür zuständigen Bundesländern. Vermehrt setzen diese nun nicht mehr auf Einzelfallprüfungen per Bescheid, sondern auf die pauschalere Genehmigung von Abschüssen durch Verordnungen. Diese sind in der Regel länger gültig, betreffen z. T. nicht nur einzelne Individuen und bieten auch keinen Rechtsschutz für Umweltschutzorganisationen. Damit ist – zumindest ex lege – die Anfechtung einer solchen Verordnung nicht möglich. Einen möglichen „Umweg“ bestätigte der VwGH im Sommer 2023 (Ra 2021/10/0162), indem er die Überprüfung einer Verordnung auf ihre Unionsrechtskonformität per Feststellungsantrag zuließ. Offen ist dabei jedoch die Frage der – unionsrechtlich gebotenen – aufschiebenden Wirkung gegen die Verordnungen sowie die Kodifizierung dieses Rechtsschutzes.

Die Vorlagefragen

Im Zuge einer Beschwerde gegen den Bescheid über den Abschuss des Wolfes 158 MATK wurden durch das LVwG Tirol vier Vorlagefragen formuliert:

1. Verstößt Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang IV der Habitatrichtlinie, wonach der Wolf dem strengen Schutzsystem unterliegt, Populationen in mehreren Mitgliedstaaten aber davon ausnimmt, während für die Republik Österreich keine entsprechende Ausnahme vorgesehen wurde, gegen den in Art. 4 Abs. 2 EUV verankerten „Grundsatz der Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten“?

2. Ist Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie, wonach ein Abweichen vom strengen Schutzsystem des Wolfes nur dann erlaubt ist, wenn u. a. die Populationen der betroffenen Art in ihrem „natürlichen Verbreitungsgebiet“ trotz der Ausnahmegenehmigung in einem „günstigen Erhaltungszustand“ verweilen, dahin gehend auszulegen, dass der günstige Erhaltungszustand nicht auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats bezogen, sondern im natürlichen Verbreitungsgebiet einer Population, das grenzüberschreitend eine wesentlich größere biogeografische Region umfassen kann, gewahrt oder wiederhergestellt werden muss?

3. Ist Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Habitatrichtlinie dahin gehend auszulegen, dass dem „ernsten Schaden“ neben dem unmittelbaren Schaden, welcher durch einen bestimmten Wolf verursacht wird, auch der mittelbare, nicht einem bestimmten Wolf zurechenbare (zukünftige) „volkswirtschaftliche“ Schaden zuzurechnen ist?

4. Ist Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie dahin gehend auszulegen, dass „anderweitige zufriedenstellende Lösungen“ aufgrund der vorherrschenden topografischen, almwirtschaftlichen und betrieblichen Strukturen im Bundesland Tirol rein aufgrund tatsächlicher Durchführbarkeit oder auch anhand wirtschaftlicher Kriterien zu prüfen sind?

Zusammenfassend also: Ist die FFH-RL hier auch auf Österreich anwendbar, auf welches Gebiet bezieht sich die relevante Definition des Erhaltungszustandes, sind gesamt-/volkswirtschaftliche Schäden in Einzelfallprüfungen zu berücksichtigen und wie stark sind wirtschaftliche Überlegungen in der Alternativenprüfung von Ausnahmen nach Artikel 16 der FFH-Richtlinie zu berücksichtigen.

Die Antworten des EuGH

Der EuGH folgt im Wesentlichen den Schlussanträgen der Generalanwältin. Hinsichtlich der ersten Frage verweist er darauf, dass Österreich bei seinem Beitritt zur Europäischen Union versäumt hat, eine entsprechende Ausnahme für den Wolf zu verhandeln und daher prinzipiell an den strengen Schutz der Richtlinie gebunden ist. Auch sieht Art 19 der FFH-RL die Möglichkeit vor, den Schutzstatus zu überarbeiten, bzw. dies bei der Kommission anzuregen. Da aber weder ein solcher Antrag von Österreich gestellt wurde, noch der EuGH im Zuge eines Vorlagefragenverfahrens das Fehlverhalten einer EU-Institution überprüfen kann, war diese Frage mit „Nein“ zu beantworten.

Die Antwort auf Frage zwei ist wohl jene mit der größten mittelbaren Auswirkung auf die österreichische Verwaltungspraxis: Der EuGH stellt klar, dass der Erhaltungszustand zuerst auf lokaler, dann nationaler und schließlich erst grenzüberschreitender Ebene zu prüfen ist. Konkret dazu Rn 58 und 60: „Daher kann die Bewertung nur, wenn sich der Erhaltungszustand der betreffenden Tierart auf lokaler und nationaler Ebene als günstig erweist, zweitens, vorausgesetzt, die verfügbaren Daten lassen dies zu, grenzüberschreitend geprüft werden.“ bzw. „Folglich ist im Einklang mit der in den Rn. 55 und 56 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung davon auszugehen, dass die Bewertung der Auswirkungen einer nach Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie gewährten Ausnahme erstens auf lokaler und nationaler Ebene und, im Fall eines auf dieser Ebene günstigen Erhaltungszustands, sofern möglich, zweitens auf grenzüberschreitender Ebene vorzunehmen ist.“ Die österreichische Praxis der Bewertung des Erhaltungszustandes auf rein biogeografischer Ebene ist damit jedenfalls nicht mehr mit dem Unionsrecht zu vereinbaren.  

So ist jedenfalls für die Zulässigkeit eines Abschusses die Erhebung des Erhaltungszustandes notwendig. Dieser muss auf lokaler, nationaler und grenzüberschreitender Ebene günstig sein (Rn 60), damit er rechtlich gedeckt sein kann. Der EuGH definiert in Rn 65, dass die „lokale“ Ebene jene des jeweiligen Bundeslandes (!!) darstellt und dies zuerst geprüft werden muss. Das erscheint auch schlüssig, da die Bundesländer für die Erhebung des Erhaltungszustandes, die rechtliche Grundlage des Natur- und Artenschutzes sowie die Erteilung von Genehmigungen und Einzelfallprüfungen zuständig sind.  

Jedenfalls unstrittig ist die Lage bei einer der Kernaussagen des EuGH: Relevant ist nach der lokalen Ebene der nationale Erhaltungszustand. Es ist hier die Aufgabe der Mitgliedsstaaten, für einen günstigen Erhaltungszustand der streng geschützten Tierarten innerhalb ihrer Landesgrenzen zu sorgen. Ausdrücklich nicht möglich ist das Abstellen allein auf die Ebene der EU gesamt oder auf die biogeografische Region (beim Wolf in Tirol: die Alpine Population, die sich bis Spanien und Skandinavien erstreckt). Hintergrund dieser Bewertung des Gerichtshofes ist auch der Grundsatz der Solidarität unter den Mitgliedsstaaten. So sollen diese ihre Verantwortung für den Artenschutz nicht auf angrenzende andere Staaten abschieben können, wenn dort die Art in einem günstigen Erhaltungszustand liegt. Mehr noch: Die höchste Ebene der Prüfung stellt auf den grenzüberschreitenden Erhaltungszustand ab. Ist also der günstige Erhaltungszustand auf lokaler und nationaler Ebene gegeben, aber nachweislich ungünstig mit Blick auf die umliegenden Staaten, kann ein Abschuss dennoch unzulässig sein. Die Argumentation des Landes Tirol wird daher hier vom EuGH quasi auf den Kopf gestellt und die Prüfung muss aufsteigend lokal, national und grenzüberschreitend einen günstigen Erhaltungszustand aufweisen, um eine Entnahme zu rechtfertigen. Das bedingt jedenfalls auch die Verpflichtung zur Erhebung dieses Zustandes auf aktueller Basis, da sonst eine solche Prüfung und die darauf basierende Entnahme nicht möglich sind.

Bei der dritten Vorlagefrage ist das Thema die Frage nach der Definition des „ernsten Schadens“ nach Art 16 Abs 1 lit b der FFH-RL. Konkret, ob auch künftige mittelbare Schäden erfasst sein sollen, die nicht unmittelbar auf das betroffene Exemplar zurückgeführt werden können. Gemeint ist damit etwa der allgemeine Rückgang der Almwirtschaft und die daraus resultierende Verwaldung sowie andere mittelbare Folgen. Eine solche Bewertung lehnt der EuGH jedoch ab, da ein (mono)kausaler Zusammenhang weder dargestellt wurde, noch glaubhaft erscheint.  

Schließlich bewertet der Gerichtshof bei der Antwort auf Frage 4 die Wertigkeit der wirtschaftlichen Aspekte von alternativen Lösungen mit geringerer Eingriffsintensität.

Oder mit anderen Worten: wie relevant die rein finanziellen Kosten von Herdenschutzmaßnahmen bei der Alternativenprüfung sind. Der EuGH hält dabei fest, dass diese in die Einzelfallprüfung einzubeziehen sind, aber keinen „ausschlaggebenden Charakter hätten, und sie gegen das allgemeine Ziel der Wahrung oder Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustands der betreffenden Tierart“ abzuwägen sind (Rn 86). Konkret dazu stellt der Gerichtshof fest, „dass nach Art. 2 Abs. 3 der Habitatrichtlinie die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten Rechnung tragen, so dass die wirtschaftlichen Kosten einer technisch durchführbaren alternativen Maßnahme u. a. als eines der abzuwägenden Kriterien berücksichtigt werden dürfen, ohne jedoch ausschlaggebenden Charakter zu haben. Es kann nämlich nicht zugelassen werden, dass eine anderweitige zufriedenstellende Lösung von vornherein allein deshalb verworfen werden kann, weil die wirtschaftlichen Kosten ihrer Durchführung besonders hoch wären“ (Rn 82). Explizit wird dabei auf die Pflicht der Mitgliedsstaaten hingewiesen, aktiv Mittel zur Förderung von Herdenschutzmaßnahmen zur Verfügung zu stellen und bestehende Fördermöglichkeiten der EU zu nutzen, was derzeit in Österreich nicht ausreichend gemacht wird.  

Fazit

Der Mensch ist dem Wolf ein Wolf. Das Urteil des EuGH stellt rechtlich eine Zäsur im Umgang mit streng geschützten Arten in Österreich dar, auch wenn in ersten Reaktionen die Bundesländer ihre Vorgangsweise als bestätigt eingeschätzt haben. Entnahmen ohne die Erhebung des lokalen (!), nationalen und ggf grenzüberschreitenden Erhaltungszustandes sind nicht mehr möglich, diese Daten sind auch unter den Bundesländern auszutauschen. Einzelfallprüfungen sind jedenfalls notwendig und gerade hinsichtlich der Alternativenprüfung strenger auszulegen, als es derzeit der Fall ist. Hier sei auch auf die laufenden und sehr erfolgreichen Herdenschutz-Versuchsprojekte verwiesen. All diese Aussagen betreffen natürlich nicht nur den Wolf, sondern auch andere streng geschützte Arten. Die aktuelle Lösung der Bundesländer, Entnahmen allein auf Basis von Verordnungen zu lösen, erfährt durch das Urteil des EuGH ebenfalls einen Dämpfer, da diese Einzelfallprüfungen nicht ersetzen können und darüber hinaus den unions- und völkerrechtlichen Anforderungen an Beteiligung und (!) Rechtsschutz für die Öffentlichkeit, also jedenfalls Umweltschutzorganisationen bei Weitem nicht genügen. So geht der Artenschutz gestärkt aus dem Verfahren hervor und auch der Wolf des Ausgangsverfahrens, 158 MATK darf weiter leben.

Link zum Urteil des EuGH

Gregor Schamschula ist Umweltjurist bei ÖKOBÜRO. Er leitet den Bereich Recht und hat seine Schwerpunkte im Wasser-, UVP- und Artenschutzrecht.