26. Februar 2025 | NEWSFLASH Umweltrecht

EGMR: Umweltverschmutzung und das Recht auf Leben - Cannavacciuolo et al. v. Italien

Das Urteil Cannavacciuolo ist das erste Urteil des EGMR, das auf dem Urteil Verein KlimaSeniorinnen u.a./Schweiz [GC] aufbaut. Im Fall selbst geht es nicht um den Klimawandel, sondern um systematische Umweltverschmutzung. Kriminelle Vereinigungen hatten in Teilen der Region Kampanien („Terra dei Fuochi“) über Jahre gefährliche Abfälle und Sondermüll illegal vergraben und abgelagert - unter Duldung der italienischen Behörden. Das Besondere bzw. Neue an diesem Urteil ist, dass der EGMR hier in einem Fall von Umweltverschmutzung eine Verletzung des Rechts auf Leben in Artikel 2 EMRK feststellte und in einem Piloturteil allgemeine Maßnahmen anordnete (Art. 46 EMRK).

Opferstatus / Locus Standi (Art. 34 EMRK) 

Die Klage wurde von Einzelpersonen sowie Verbänden eingereicht. Hinsichtlich der Frage, ob ein Verband befugt ist, im Namen seiner Mitglieder zu klagen, sah der EGMR allerdings die in KlimaSeniorinnen dargelegten Kriterien nicht anwendbar, da sie auf den Kontext des Klimawandels beschränkt seien (siehe dazu auch die zwei separaten Stellungnahmen von den Richtern Krenc und Serghides). Der EGMR ging – wie schon in seiner früheren Rechtsprechung – davon aus, dass einem Verband kein Opferstatus gewährt werden kann, wenn er sich nur auf die individuellen Rechte seiner Mitglieder beruft, ohne nachzuweisen, dass er selbst in irgendeiner Weise wesentlich beeinträchtigt wurde. Die klagenden Verbände seien nicht „direkt von den angeblichen Verstößen betroffen, die auf eine Gesundheitsgefährdung durch Verschmutzung zurückzuführen sind. Es gebe auch keine „besonderen Erwägungen“ oder „außergewöhnlichen Umstände“, die eine andere Schlussfolgerung rechtfertigen würden. Somit fehle die Klagebefugnis des Verbands im Namen seiner Mitglieder zu handeln.
 

Recht auf Leben (Art. 2 EMRK) 

In der Sache berief sich der Gerichtshof auf KlimaSeniorinnen (zum ersten Mal in einem Fall von Umweltverschmutzung) auf das Recht auf Leben. Er erwähnte das Erfordernis einer hinreichend ernsten, tatsächlichen, feststellbaren und unmittelbar bevorstehenden Gefahr aufgrund der anhaltenden Verschmutzung und den Nachweis der räumlichen und zeitlichen Nähe dieser Gefahr. Der EGMR verwies einerseits auf die von Natur aus gefährlichen Tätigkeiten (illegale, unregulierte Ablagerung, oft in Verbindung mit Verbrennung, und das Vergraben von gefährlichen Abfällen), die ein Risiko für das menschliche Leben darstellen können; andererseits auf die Schwere der potenziellen Schäden für die menschliche Gesundheit, die sich aus solchen Tätigkeiten ergeben und alle Umweltelemente wie Boden, Wasser und Luft betreffen. 

Der EGMR betonte - wiederum auf der Grundlage von KlimaSeniorinnen - die Verpflichtung der Staaten, rechtzeitig wirksame Schutzmaßnahmen zu ergreifen, um das Leben vor gefährlichen Aktivitäten zu schützen. Die italienischen Behörden, die jahrzehntelang von den gefährlichen Aktivitäten wussten, hätten das Problem der Terra dei Fuochi nicht mit derdurch die Schwere der Situation gebotenenSorgfalt adressiert und nicht alle erforderlichen Maßnahmen zum Schutz des Lebens der Klagenden ergriffen. Diese Schutzpflicht könne - so der Gerichtshof – auch nicht durch fehlende wissenschaftliche Gewissheit über die genauen Auswirkungen der Verschmutzung auf die Gesundheit der Klagenden aufgehoben werde. Der EGMR betonte auch das Recht der Öffentlichkeit auf Information. Der Gerichtshof stellte schließlich eine Verletzung des Rechts auf Leben fest, da es keine systematische, koordinierte und strukturierte Reaktion auf das Problem gegeben habe.

 

Piloturteil nach Art. 46 EMRK 

In einem Piloturteil ordnete der EGMR detaillierte allgemeine Maßnahmen an, die innerhalb von zwei Jahren nach Rechtskraft des Urteils umgesetzt werden sollen, um das Problem der Terra dei Fuochi zu lösen (Art. 46 EMRK). Eine umfassende Strategie, die bestehende oder geplante Maßnahmen, einen unabhängigen Überwachungsmechanismus und eine öffentlich zugängliche Informationsplattform zusammenführt, seien notwendig.

Weitere Informationen: 

Cannavacciuolo et al. gegen Italien (EGMR, 30. Jänner 2025, Nr. 51567/14 und 3 Andere)