Opferstatus / Locus Standi (Art. 34 EMRK)
Die Klage wurde von Einzelpersonen sowie Verbänden eingereicht. Hinsichtlich der Frage, ob ein Verband befugt ist, im Namen seiner Mitglieder zu klagen, sah der EGMR allerdings die in KlimaSeniorinnen dargelegten Kriterien nicht anwendbar, da sie auf den Kontext des Klimawandels beschränkt seien (siehe dazu auch die zwei separaten Stellungnahmen von den Richtern Krenc und Serghides). Der EGMR ging – wie schon in seiner früheren Rechtsprechung – davon aus, dass einem Verband kein Opferstatus gewährt werden kann, wenn er sich nur auf die individuellen Rechte seiner Mitglieder beruft, ohne nachzuweisen, dass er selbst in irgendeiner Weise wesentlich beeinträchtigt wurde. Die klagenden Verbände seien nicht „direkt” von den angeblichen Verstößen betroffen, die auf eine Gesundheitsgefährdung durch Verschmutzung zurückzuführen sind. Es gebe auch keine „besonderen Erwägungen“ oder „außergewöhnlichen Umstände“, die eine andere Schlussfolgerung rechtfertigen würden. Somit fehle die Klagebefugnis des Verbands im Namen seiner Mitglieder zu handeln.
Recht auf Leben (Art. 2 EMRK)
In der Sache berief sich der Gerichtshof auf KlimaSeniorinnen (zum ersten Mal in einem Fall von Umweltverschmutzung) auf das Recht auf Leben. Er erwähnte das Erfordernis einer hinreichend ernsten, tatsächlichen, feststellbaren und unmittelbar bevorstehenden Gefahr aufgrund der anhaltenden Verschmutzung und den Nachweis der räumlichen und zeitlichen Nähe dieser Gefahr. Der EGMR verwies einerseits auf die von Natur aus gefährlichen Tätigkeiten (illegale, unregulierte Ablagerung, oft in Verbindung mit Verbrennung, und das Vergraben von gefährlichen Abfällen), die ein Risiko für das menschliche Leben darstellen können; andererseits auf die Schwere der potenziellen Schäden für die menschliche Gesundheit, die sich aus solchen Tätigkeiten ergeben und alle Umweltelemente wie Boden, Wasser und Luft betreffen.
Der EGMR betonte - wiederum auf der Grundlage von KlimaSeniorinnen - die Verpflichtung der Staaten, rechtzeitig wirksame Schutzmaßnahmen zu ergreifen, um das Leben vor gefährlichen Aktivitäten zu schützen. Die italienischen Behörden, die jahrzehntelang von den gefährlichen Aktivitäten wussten, hätten das Problem der Terra dei Fuochi nicht mit der – durch die Schwere der Situation gebotenen – Sorgfalt adressiert und nicht alle erforderlichen Maßnahmen zum Schutz des Lebens der Klagenden ergriffen. Diese Schutzpflicht könne - so der Gerichtshof – auch nicht durch fehlende wissenschaftliche Gewissheit über die genauen Auswirkungen der Verschmutzung auf die Gesundheit der Klagenden aufgehoben werde. Der EGMR betonte auch das Recht der Öffentlichkeit auf Information. Der Gerichtshof stellte schließlich eine Verletzung des Rechts auf Leben fest, da es keine systematische, koordinierte und strukturierte Reaktion auf das Problem gegeben habe.
Piloturteil nach Art. 46 EMRK
In einem Piloturteil ordnete der EGMR detaillierte allgemeine Maßnahmen an, die innerhalb von zwei Jahren nach Rechtskraft des Urteils umgesetzt werden sollen, um das Problem der Terra dei Fuochi zu lösen (Art. 46 EMRK). Eine umfassende Strategie, die bestehende oder geplante Maßnahmen, einen unabhängigen Überwachungsmechanismus und eine öffentlich zugängliche Informationsplattform zusammenführt, seien notwendig.