Ausgangslage und Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens
Bei den streitgegenständlichen Mitteln Chlothianidin und Thiamethoxam handelt es sich um Wirkstoffe aus der Familie der Neonicotinoide, die vorwiegend in der Landwirtschaft als Insektizide zur Behandlung von Saatgut eingesetzt werden. Diese synthetischen, tatsächlich mit dem Nikotin verwandten Pflanzenschutzmittel, wurden erstmals 1991 in der EU zugelassen. Rasch gerieten sie jedoch in Verdacht, eine toxische Wirkung auf Bienen und andere Insekten zu haben, mittlerweile konnte ihr hohes Risiko für die Bestäuberpopulationen bestätigt werden. Die Verwendung von Pflanzenschutzmitteln, die diese Wirkstoffe enthalten, ist daher in der EU seit 2013 eingeschränkt: Insbesondere dürfen sie nur noch für Pflanzenkulturen in einem dauerhaft errichteten Gewächshaus eingesetzt werden. Gleichzeitig wurden jedoch für einige Anwendungsbereiche und Kulturen Ausnahmen normiert: Sofern eine konkrete Gefahr für die Pflanzen besteht, können die EU-Staaten als ultima ratio für diese Mittel für maximal je 120 Tage Notfallzulassungen erteilen und die grundsätzlich verbotenen Substanzen auf diesem Weg weiterhin verwenden.
Seither wurden diese Notfallzulassungen im EU-Raum zahlreich genutzt, so auch von Belgien: Im Oktober 2018 ließen die belgischen Behörden, gestützt auf diese Ausnahme, vorübergehend das Inverkehrbringen zweier Pflanzenschutzmitteln mit Chlothianidin und Thiamethoxam für die Behandlung des Saatguts von Zuckerrüben zu; wenig später erteilten sie vier weitere Notfallzulassungen für die Behandlung des Saatguts von Karotten, Kopfsalat, Chicorée, Radicchio rosso und Zuckerhut mit derartigen Pflanzenschutzmitteln.
Ende Jänner beziehungsweise im April 2019 lief die Zulassung der Wirkstoffe, um die es im konkreten Fall ging ab, sodass ihre Nutzung seither in der EU verboten ist. Gleichzeitig erhoben zwei Umweltschutzorganisationen zusammen mit einem Imker Anfang 2019 eine Klage gegen diese Notfallzulassungen in Belgien. Sie brachten im Wesentlichen vor, dass die Neonicotinoide zunehmend im Wege der Applikation auf dem Saatgut derart angewandt würden, dass sie bereits vor der Aussaat vorbeugend auf das Saatgut aufgetragen würden. Die Landwirt:innen kauften dieses Saatgut, ohne dass ein tatsächliches Auftreten der mit diesen Produkten bekämpften Insekten, und damit eine konkrete Gefahr für die Pflanzenkulturen, bestätigt wäre.
Da das nationale Gericht Zweifel in Bezug auf die Reichweite und Auslegung der unionsrechtlich normierten Ausnahme hegte, legte es dem EuGH eine Reihe von Vorlagefragen vor.
Notfallzulassungen laut EuGH klar rechtswidrig
Mit der Entscheidung vom Jänner 2023 stellte der EuGH nun klar, dass es den Mitgliedstaaten nicht erlaubt sei, das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln, die die Wirkstoffe Clothianidin und Thiamethoxam enthalten, zur Behandlung von Saatgut – etwa als Beize gegen Schädlinge im Boden, sowie das Inverkehrbringen und die Verwendung von mit diesen Produkten behandeltem Saatgut zuzulassen, wenn das Inverkehrbringen und die Verwendung von mit diesen Produkten behandeltem Saatgut ausdrücklich mit einer Durchführungsverordnung untersagt wurde. Das ist auch für Österreich bedeutsam, da auch hierzulande solche Notfallzulassungen seit Jahren jedes Jahr erneut für den Zuckerrübenanbau genehmigt wurden. Dies ist nun nicht länger zulässig.
Weitere Informationen:
- EuGH vom 19. Jänner 2023, Rs C‑162/21
- Informationen zu Neonicotinoiden von GLOBAL 2000