Anlassfall: Die Errichtung einer Liftanlage
Die Vorarlberger Landesregierung hat im Jahr 2019 mit Verordnung über die Änderung der Verordnung über das Naturschutzgebiet „Gipslöcher“ in Lech die Herausnahme von Teilflächen aus dem Naturschutzgebiet festgelegt. Die Gipslöcher sind als besonders schützenswerte Lebensräume im Vorarlberger Biotopinventar erfasst und stehen seit 1988 als Naturschutzgebiet unter Schutz. Grund für die Verkleinerung war die geplante Errichtung der Liftanlage „Grubenalpbahn“ im Ortsteil Oberlech. Die Errichtung der 6er Sesselbahn hätte eine Überspannung des Naturschutzgebietes ‚Gipslöcher‘ bedingt, welches bisher noch frei von skitechnischer Erschließung war. Bereits vor der Verkleinerung des Schutzgebietes wurde naturschutzfachlich eine dauerhafte nachteilige Beeinflussung desselben durch das Vorhaben festgestellt. Die Änderung der Grenzen des Naturschutzgebietes wurde im Wesentlichen damit begründet, dass von der Gebietsverkleinerung überwiegend landwirtschaftlich genutzte Flächen berührt wären, auf welchen sich der landwirtschaftliche Einfluss durch Beweidung und Düngung anhand der Stickstoffzeiger und der verringerten Artenzusammensetzung deutlich erkennbar mache.
Landesvolksanwalt beantragt Verordnungsprüfung
In der Folge legte der Landesvolksanwalt von Vorarlberg die Verordnung dem VfGH zur Überprüfung vor. Die Verordnung verstoße unter anderem gegen die Ermächtigungsnorm des § 26 Abs 1 Vorarlberger Naturschutzgesetz (Vbg NSchG), die eine Interessenabwägung vorschreibe: „Die Landesregierung kann durch Verordnung Vorschriften über den Schutz bestimmter, genau abgegrenzter Gebiete erlassen, wenn ein besonderer Schutz der Natur oder einzelner ihrer Teile sowie der Landschaft in diesen Gebieten aufgrund ihrer Bedeutung im öffentlichen Interesse liegt.“ Der Verordnungsgeber habe außerdem die Bestimmungen des Artikel 11 Abs. 1 des Durchführungsprotokolls der Alpenkonvention 'Naturschutz und Landschaftspflege' ('Naturschutzprotokoll') im Verfahren nicht berücksichtigt. Demgemäß verpflichten sich die Vertragsparteien dazu, bestehende Schutzgebiete im Sinne ihres Schutzzwecks zu erhalten, zu pflegen und, wo erforderlich, zu erweitern sowie nach Möglichkeit neue Schutzgebiete auszuweisen. Sie haben alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um Beeinträchtigungen oder Zerstörungen dieser Schutzgebiete zu vermeiden. Artikel 11 Abs. 1 Naturschutzprotokoll beschränke das Ermessen der Behörden, bestehende Verordnungen abzuändern.
VfGH verlangt Interessenabwägung bei Verkleinerung von Schutzgebiet
In seiner Entscheidung hebt der VfGH die Verordnung als gesetzwidrig auf. Er bekräftigt in seiner Entscheidung erneut die grundsätzlich unmittelbare Anwendbarkeit des Naturschutzprotokolls (mit Verweis auf VfSlg. 19.126/2010) sowie die unmittelbare Anwendbarkeit von Artikel 11 Abs. 1 Naturschutzprotokoll im Konkreten. § 26 Vbg NSchG sieht eine Interessenabwägung vor, im Rahmen derer auch Artikel 11 Abs. 1 Naturschutzprotokoll zu berücksichtigen ist. Eine ausreichende Interessenabwägung geht aus den Verordnungsakten nicht hervor. Der vom Verordnungsgeber vorgebrachte Umstand, dass es sich nur um eine geringfügige Verkleinerung des Naturschutzgebietes handle und die betroffene Fläche überwiegend landwirtschaftlich genutzt werde, reicht aus Sicht des Höchstgerichtes dafür nicht aus.
Mit dieser Entscheidung wird erneut die Relevanz der Alpenkonvention und seiner Protokolle für die Rechtsanwendenden bekräftigt: unmittelbar anwendbare Bestimmungen sind in Behördenverfahren zur Beurteilung heranzuziehen. Im Ausgangsfall gibt Artikel 11 Abs. 1 Naturschutzprotokoll der Behörde wohl schon der Interessenabwägung vorgelagert, die Vorgabe geeignete Alternativen, nämlich - „alle geeigneten Maßnahmen“ - zu erwägen und in der Folge auch zu treffen, um Beeinträchtigungen oder Zerstörungen des Schutzgebiets zu vermeiden.
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