Hintergrund
Am 27.1.2021 stellte die Infrastrukturministerin nach Durchführung einer Einzelfallprüfung über den Antrag der ASFINAG fest, dass für den Ausbau der A22 bei Stockerau keine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) nach dem 3. Abschnitt des Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetzes 2000 (UVP-G) durchzuführen sei. Gegen diesen Feststellungsbescheid erhoben einerseits eine Standortgemeinde, die NÖ Landesumweltanwaltschaft sowie andererseits NachbarInnen und eine anerkannte Umweltschutzorganisation Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG).
Das Vorhaben umfasst, die Erweiterung der A22 bei Stockerau um einen Fahrstreifen in beiden Richtungen, was zudem dazu führen wird, dass die Hauptachse der Autobahn verlegt wird. Außerdem soll im Knoten Stockerau die Rampenfahrbahn auf beiden Seiten zweistreifig ausgebaut sowie die bestehende Fahrbahn der S 3 vollständig erneuert werden. Auch sind eine Neuplanung des Entwässerungssystems im gegenständlichen Abschnitt der A22 und die Errichtung von Lärmschutzwänden vorgesehen. Das Vorhaben grenzt in fast der gesamten Länge an besondere Schutzgebiete an - nämlich das Europaschutzgebiet Tullnerfelder Donau-Auen sowie das Naturschutzgebiet “Stockerauer Au”, deren Fläche zum Teil durch das Vorhaben direkt beansprucht wird und Rodungen im Ausmaß von insgesamt über 4,5 ha vorgenommen werden müssen. Durch diese Neuerungen wird ein Gesamtverkehrsaufkommen im gegenständlichen Abschnitt von rund 80.000 Kfz/24 Stunden in den Jahren 2025 und 2035 prognostiziert.
EuGH-Judikatur stellt umfangreiche Straßenerneuerungen einem Straßenbau gleich
Die Umweltverträglichkeitsprüfungs-Richtlinie (UVP-RL) unterscheidet zwischen Straßenvorhaben nach Anhang I und nach Anhang II. So ist der Bau von Autobahnen und Schnellstraßen sowie von mehrspurigen Straßen ab einer Länge von 10 km gem Anh I Z 7 lit b und c jedenfalls einer UVP zu unterziehen. Bei anderen Straßenbauvorhaben sowie Änderungen bleibt es den Mitgliedstaaten überlassen, diese aufgrund von festgelegten Schwellenwerten oder nach Durchführung einer Einzelfallprüfung einer UVP zu unterziehen.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat sich bereits in zwei Fällen mit dem Begriff des „Baus“ von Autobahnen und Schnellstraßen auseinandergesetzt. Einerseits ging es um die Verbesserung und Erneuerung der Umgehungsautobahn von Madrid mit umfangreichen Tiefbaumaßnahmen (C-142/07). Die Realisierung des Projekts sollte zu einem Anstieg des Verkehrs auf der Straße um rund 25% führen. Andererseits ging es um die Erweiterung der Kreisstraße von Nürnberg in zwei Abschnitten (C-645/15). In beiden Fällen hatte der EuGH entschieden, dass selbst solche Projekte, die der Erneuerung von bestehenden Straßen dienen, aufgrund ihres Umfangs und ihrer Art einem „Bau“ von Straßen iSd Anhang I Z 7 lit b und c UVP-RL gleichkommen können. Ausdrücklich verweist der EuGH darauf, dass bei der Beurteilung, ob mit erheblichen Auswirkungen zu rechnen ist, auf sämtliche Merkmale abzustellen sei, nicht bloß auf die Länge des Vorhabens. Nur im Falle, dass es sich um keine Autobahnen oder Schnellstraßen handle, sei eine Prüfung von Änderungen iSd Anhang II durchzuführen.
Bestimmungen des UVP-G zu Straßenneubauten haben unangewendet zu bleiben
Das BVwG stützt sich nun in seinem Erkenntnis auf die oben genannte EuGH-Judikatur und bejaht eine UVP-Pflicht für das Vorhaben A22 Stockerau. Zwar sind im gegenständlichen Vorhaben keine so umfassenden Tiefbauten geplant, wie es bei den EuGH-Fällen der Fall war. Allerdings betrifft der Ausbau der A22 ein Natura 2000 Gebiet sowie ein Naturschutzgebiet, u.a. direkt durch Flächeninanspruchnahmen, Rodungen oder Erdabtragungen. Die Möglichkeit von erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt ist abstrakt zu beurteilen, um eine Einzelfallprüfung nicht vorwegzunehmen (vgl. EuGH C-645/15, Rn 42). Als entscheidend für die Annahme der UVP-Pflicht für den Ausbau der A22 betrachtet das BVwG die Kapazitätserweiterung sowie die erheblichen Inanspruchnahmen neuer Flächen. In richtiger Anwendung der EuGH-Judikatur zur UVP-RL iZm Straßenvorhaben kommt das BVwG daher zum Schluss, dass der Ausbau der A22 einem Neubau einer Autobahn gleichkommt.
In diesem Zusammenhang stellte das BVwG auch fest, dass die Bestimmungen im UVP-G zur Umsetzung der Vorgaben der UVP-RL zu Straßenvorhaben unzureichend seien. Der österreichische Begriff des „Neubaus“ betreffe ausdrücklich nur die Neuerrichtung oder Verlegung von Bundesstraßen und sei daher zu restriktiv. Im konkreten Fall ließ das BVwG daher in richtlinien-konformer Auslegung die Bestimmung des § 23a Abs 1 und Abs 2 Z 1 und 2 UVP-G unangewendet, da die Bestimmung sonst eine UVP für Vorhaben verhindern würde, die ihrem Umfang nach einem Bau gleichkommen.
Weitere Informationen:
Erkenntnis des BVwG vom 14.5.2021, W104 2240490-1/113E
UVP-G 2000
UVP-Richtlinie