Verbotstatbestände nicht von Erhaltungszustand abhängig
Die von den Maßnahmen betroffenen Waldgebiete stellen den Lebensraum für mehrere Vogelarten dar, so etwa den Kleinspecht (Dryobates minor oder Dendrocopos minor), das Auerhuhn (Tetrao urogallus), die Weidenmeise (Poecile montanus oder Parus montanus), das Wintergoldhähnchen (Regulus regulus) und die Tannenmeise (Periparus ater oder Parus ater). Auch der Moorfrosch (Rana arvalis) kann in der Umgebung gefunden werden. Die genannten Arten nutzen das Gebiet mit hoher Wahrscheinlichkeit für ihre Fortpflanzung. Die Abholzungen würden, abhängig davon, zu welchem Zeitpunkt im Lebenszyklus der jeweiligen Art sie erfolgen, dazu führen, dass Exemplare dieser Arten gestört oder getötet werden. Die Eier, die sich zur Zeit der Abholzung in dem Gebiet befinden, würden zerstört werden.
Die schwedische Artenschutzverordnung setzt die in Art 5 lit a bis d Vogelschutz-RL und Art 12 Abs 1 lit a bis d FFH-RL geregelten Verbote um. Sowohl die schwedischen Bestimmungen als auch die schwedische Rechtsprechung haben bisher die Verbote nach Art 5 Vogelschutz-RL und Art 12 FFH-RL davon abhängig gemacht, dass der Erhaltungszustand der betroffenen Arten ungünstig ist oder durch die jeweilige Handlung verschlechtert würde. In seinem Urteil vom 4. März 2021 (C-473/19 und C-474/19) stellt der EuGH nun bzgl. Art 12 FFH-RL fest, dass der Zweck der genannten Störungs- und Tötungsverbote umgangen werde, wenn bei der Anwendbarkeit der Verbote auf bspw. forstwirtschaftliche Maßnahmen auf den Erhaltungszustand der betroffenen Arten abgestellt wird. Dies gelte dabei umso mehr für die Beeinträchtigung von Fortpflanzungs- und Ruhestätten, für die ein strengerer Schutz gilt, nachdem der Unionsgesetzgeber das Verbot hier nicht auf absichtliche Handlungen beschränkt hat. Zudem ergebe sich bereits aus dem Wortlaut des Art 12 FFH-RL, welcher auf „Exemplare” und „Eier” abstellt, dass es bei dessen Tötungs- und Störungsverboten um den Schutz der Individuen geht.
Schutz nach Vogelschutzrichtlinie weit zu verstehen
Laut den Schlussanträgen der Generalanwältin Kokott stellen die schwedischen Bestimmungen den Versuch dar, „zu verhindern, dass der europäische Artenschutz menschliche Tätigkeiten übermäßig einschränkt.“ Dies vor dem Hintergrund, dass der EuGH in seiner bisherigen Rechtsprechung den Begriff der Absichtlichkeit bei den Verboten nach Art 12 der FFH-RL immer weit ausgelegt hat. Demnach liegt Absichtlichkeit auch dann vor, wenn der Handelnde den Fang oder die Tötung eines Exemplars einer geschützten Tierart zumindest in Kauf nimmt. Im Gegensatz zu den Verbotstatbeständen der FFH-RL, die auf nach den Anhängen geschützte Arten abstellen, umfasst jedoch der Anwendungsbereich der Verbotstatbestände des Art 5 Vogelschutzrichtlinie sämtliche wildlebende Vogelarten, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten heimisch sind.
Die Generalanwältin argumentiert daher für den Fall, dass die Beeinträchtigungen nur in Kauf genommen werden, die Verbote nach Art 5 Vogelschutzrichtlinie nur soweit gelten zu lassen, als dies notwendig ist, „um diese Arten im Sinne von Art. 2 auf einem Stand zu halten oder auf einen Stand zu bringen, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entspricht, und dabei den wirtschaftlichen und freizeitbedingten Erfordernissen Rechnung trägt."
Der EuGH setzte sich mit dieser Argumentation nicht auseinander, bekräftigte jedoch in seiner Entscheidung, dass Art 5 Vogelschutz-RL auf sämtliche Vogelarten anzuwenden ist. Bereits das nationale Gericht hatte festgestellt, dass die Bestimmungen der schwedischen Artenschutzverordnung hinsichtlich der Verbote des absichtlichen Fangens oder Tötens und des Störens von Tierarten sowie des Zerstörens oder Sammelns von Eiern nicht zwischen den unter die FFH-RL fallenden Arten und den unter die Vogelschutz-RL fallenden Arten unterscheidet. Den Mitgliedstaaten steht es gem. Art 14 Vogelschutz-RL frei, strengere Schutzmaßnahmen als jene der Richtlinie vorzuschreiben. Daher konnte sich der Gerichtshof in seinem Urteil auf die Prüfung der Verbote nach Art 12 FFH-RL beschränken.
Weitere Informationen:
Schlussanträge der Generalanwältin
Beitrag auf dem Umweltrechtsblog
Vergleich Urteile zum Artenschutz: C-477/19, C-441/17, C-221/04